Joachim Gauck hatte Recht mit seinen Worten, dass sich viele ehemalige DDR-Bürger damals nicht und bis heute nicht abgeholt fühlten. Darin mag ein Grund der bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West liegen. Doch insbesondere ist eine Generation, die sich nicht abgeholt fühlte und nie so recht Beachtung bekam: Die Anfang 20-Jährigen. Wer Ende 1989 bzw. im Oktober 1990 zwischen 20 und 25 Jahre alt war, fühlte sich regelrecht überrollt von den Ereignissen vom Mauerfall und der deutschen Einheit, die sich heute zum 34. Mal jährt.
Wenn eine Walze über das Leben rollt
Mit Anfang 20 beginnt das eigentliche Leben. Pläne wurden geschmiedet, das Elternhaus – jetzt sollte die neue Lebensphase beginnen. Viele von ihnen entschieden sich im Sommer 1989 bewusst im Heimatland DDR zu bleiben und gingen nicht wie viele ihrer Freunde nach Prag oder Ungarn. Sie blieben zu Hause, wollten mit an den notwendigen Veränderungen des Landes arbeiten, für eine bessere Zukunft. Und plötzlich geschah es; die Mauer fiel am Abend des 9. November in der legendären Pressekonferenz mit Günter Schabowski, der als Sekretär für Informationswesen an jenem Abend über die „neue Regelung für Reisen ins westliche Ausland für DDR-Bürger“ informieren sollte. Bis zum Moment, als ihm jemand eine Notiz überreichte, auf der die Maueröffnung im Grunde unfreiwillig vollzogen wurde.
Jeder, der bis 3 zählen konnte, wusste, dass die DDR an diesem Tag aufhörte zu existieren. Damit stand auch die Zukunft der Anfang 20-Jährigen auf dem Spiel. Für sie gab es am Beginn des Erwachsensein kein weitergehen, die persönliche Entwicklung bekam einen tiefen Schnitt, aus dem ein sichtbares Narbengewebe entstand.
Ich bleibe – dann kam der Westen
Gerade noch entschieden sich die 20-Jährigen in ihrer Heimat zu bleiben, schon rief die westdeutsche Bundesregierung nach der Einheit Deutschlands, nach einem „was zusammen gehört“. Doch genau von dieser Vergangenheit waren die Anfang 20-Jährigen weit entfernt. Geboren zwischen 1965 und 1972 kannten sie weder Krieg noch den Aufbau der Mauer im Jahr 1961. Auch der Prager Frühling war ihnen unbekannt, sie wuchsen in einer heilen Welt auf und brachten vom ersten Tag ein bestimmtes positives Lebensbild mit, das sie zwei Jahrzehnte begleitete. In der Regel arbeiteten beide Elternteile, in den Sommerferien fuhren sie in Ferienlager und genossen eine glückliche Kindheit. Weit entfernt von Arbeitslosigkeit und finanziellen Sorgen war und ist diese Generation noch immer eine besondere. Sie haben einen beispiellosen Spagat hinter sich, der in der europäischen – und vielleicht auch Weltgeschichte einmalig ist.
Politisch und emotional im Jahr 1990 vergessen
Heute sind die damals 20-Jährigen Mitte 50. Der schmerzhafte Dorn, der im Herzen steckenblieb, ist an jedem 3. Oktober spürbar. Für den einen mehr, für andere weniger. Vermutlich fühlen sich viele von ihnen um ihr Land betrogen. Genau genommen sind sie heimatlos. Ihnen fehlte der Start in das Leben, die ersten Jahre der Erfahrung von Beruf und Privatleben. Statt dessen mussten sie sich innerhalb von 11 Monaten in einem neuen Land einordnen, indem sich viele nicht wiederfanden. Kaum verwunderlich, denn schliesslich kann man die 20 Jahre Prägung nicht einfach wegwischen.
Wenn deutsche Medien und Politiker bis in das Jahr 2024 nicht verstehen, warum der Osten wählt wie er wählt, dann hat es sicherlich auch damit zu tun, dass eine einst junge Generation 1990 weder politisch noch seelisch abgeholt wurde. Emotional stehen sie dort noch immer und entscheiden sich deshalb anders, als der Rest der Republik es tut. Standhafte Helden, die das letzte Stück Heimat weiter in sich tragen.
Beitragsfoto von Radek Homola auf Unsplash
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